Sinn und Wert der Arbeit: »Bullshit Jobs« von David Graeber

Bullshit Jobs

Der US-amerikansiche Kulturanthropologe David Graeber prägte 2013 den Begriff der »Bullshit Jobs«. In seinem 2020 auf Deutsch erschienenen Buch analysiert er das Phänomen genauer: 37% aller Jobs sollen sogenannte Bullshit Jobs sein – sprich: sinnlos und überflüssig? Diese These provoziert. Graebers Werk ist wissenschaftlich und dicht, es liest sich dennoch flüssig. Der Leser darf entscheiden, ob es komisch oder tragisch, fundiert oder absurd auf ihn wirkt.

»Bullshit Jobs« regt in jedem Fall an, das Thema Arbeit mit sämtlichen Aspekten wie Arbeitslosigkeit, Jobsicherheit, (Voll-)beschäftigung, Sinn und Bezahlung aus neuen Perspektiven zu betrachten.

»Bullshit Jobs« von David Graeber

2013 veröffentlichte David Graeber einen Artikel im Magazin Strike!: On the Phenomenon of Bullshit Jobs: A Work Rant (auf der Website des Magazins gibt es auch eine deutsche Übersetzung). Der Artikel ging viral. Der Begriff Bullshit Job wurde weltbekannt. Damals schickte mir eine Freundin den Link, mit einem Augenzwinker-Smiley, der bedeuten sollte: »Sowas hattest du doch auch mal, oder?« In der Tat habe ich eine persönliche Bilderbuch-Bullshit-Job-Geschichte, über die ich demnächst hier vielleicht auch einmal berichte.

Im April 2021 hörte ich im Podcast »Wohlstand für alle« die Literaturfolge zu »Bartleby, der Schreiber«. Die Podcaster Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt, aktuell gerade mit einem Influencer-Buch auf der Bestsellerliste, übertragen den Begriff des Bullshit-Jobs auf eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert: Der Schreiber Bartleby ist der Protagonist einer Erzählung von Hermann Melville. Bartleby verweigert sich zunehmend der Welt: Seine Aussage »I would prefer not to« (»Ich möchte lieber nicht«) wurde legendär. Hatte der Schreibgehilfe eines Anwalts einen Bullshit Job? Durch die Podcast-Folge erfuhr ich, dass auf Grabers Artikel im Magazin Strike 2018 ein Buch folgte. 2020 ist das Taschenbuch in der 3. Druckauflage im Klett Cotta Verlag erschienen. Sebastian Vogel hat das Werk aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt.

Ein Drittel aller Jobs sinnlos?

Nach seinem oben verlinkten Essay erhielt Graeber hunderte von Nachrichten von beruflich frustrierten Menschen, welche ihm ihr Leid schilderten. Daraufhin führte er eine Studie durch, mit dem Ergebnis: 37% der Befragten gaben an, einen Bullshit-Job zu haben. Ein Drittel aller Jobs sollen sinnlos sein? Diese These provoziert.

Graeber lehrte an der London School of Economics. Für die Buchrecherche arbeitete er wissenschaftlich: Er stellte eigene Studien an, und die Liste der zitierten Fachliteratur ist lang. So liest sich das Buch: flüssig – man bekommt jedoch nicht nur leichte Kost serviert, sondern einen bunt gemischten Teller mit soziologischen, politischen, wirtschaftswissenschaftlichen, psychologischen und kulturgeschichtlichen Einflüssen. Trocken ist die Lektüre keineswegs, Graeber beschreibt die Absurditäten unserer (Arbeits-)Welt anschaulich und humorvoll. Dies wirkt tragikomisch: Man weiß manchmal nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Was ist ein Bullshit-Job?

Bullshit-Job ist nicht gleich Bullshit-Job. Graeber definiert fünf verschiedene Typen. Er grenzt Scheißjobs (unschöne Tätigkeiten wie Putzen oder Müllsammeln) von Bullshit-Jobs (sinnlose Tätigkeiten) ab. Die Definition eines Bullshit-Jobs lautet folgendermaßen:

»Ein Bullshit-Job ist eine Form der bezahlten Anstellung, die so vollkommen sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, dass selbst derjenige, der sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann, obwohl er sich im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet fühlt, so zu tun, als sei dies nicht der Fall.«

»Bullshit Jobs« von David Graeber

Psychische Auswirkungen

Zitate von verschiedensten Bullshit-Job-Geplagten, die ihre Situation schildern, ziehen sich durch das Buch.

Zwei Kapitel widmen sich den psychischen Auswirkungen auf Menschen in Bullshit-Jobs. Die Analyse scheint einen Nerv der Zeit zu treffen, vor allem bei der Generation Y: Eine Generation meist studierter junger Menschen, die die Welt verbessern will, und feststellt, dass ihre berufliche Tätigkeit nichts damit zu tun hat. Da die Tätigkeit gut bezahlt wird, fühlt man sich schlecht, auf solch hohem Niveau zu jammern. Dennoch zermürbt es.

Die Finanzbranche

Berufsstände wie Personalberater, Kommunikationskoordinatoren, PR-Wissenschaftlicher, Finanzstrategen und Anwälte für Gesellschaftsrecht hat Graeber auf dem Kieker. Er fragt: »Wäre diese Welt nicht besser ohne Telefonwerbung?«

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Wenig überraschend ist der Finanzsektor die Branche, die am schlechtesten wegkommt. Genauer gesagt ist sie für vieles verantwortlich:

»Eigentlich kann man die Ansicht vertreten, dass der ganze Finanzsektor eine Art Betrug ist, denn er stellt sich so dar, als würde er Investitionen in gewinnbringende Anlagen von Handel und Industrie lenken, obwohl er das in Wirklichkeit nur in sehr geringem Umfang tut. Seine Profite stammen in ihrer überwältigen Mehrheit von einem Zusammenspiel mit den Regierungen zur Schaffung verschiedener Formen und Schulden, die man dann handeln und manipulieren kann.«

»Bullshit Jobs« von David Graeber

Die Erklärung der Misere: der Manager-Feudalismus

Eine Aussteigerin aus der Finanzbranche wie die Volkswirtin stimmt hier natürlich uneingeschränkt zu. Aber liefert das Buch auch eine Erklärung für die Misere? Ich war gespannt. Die Antwort lautet: ja. Graeber nennt es den Manager-Feudalismus:

»In jedem politisch-ökonomischen System, das nicht auf der eigentlichen Herstellung, dem Transport oder der Instandhaltung von Waren basiert, sondern auf ihrer Aneignung und Verteilung, sodass ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung damit beschäftigt ist, Ressourcen in dem System aufwärts und abwärts zu lenken, wird dieser Teil der Bevölkerung dazu neigen, sich selbst in einer komplizierten Ranghierarchie mit mehreren Schichten (mindestens drei, manchmal aber auch zehn, zwölf oder noch mehr) zu organisieren.«

»Bullshit Jobs« von David Graeber

Dies erklärt einiges, auch den Widerspruch: Eigentlich sollten Unternehmen im Wettbewerb zueinander stehen und effizient agieren – die überflüssigen Jobs passen nicht dazu.

Der Manager-Feudalismus erklärt auch die zunehmende Bürokratie – egal ob in marktwirtschaftlichen Unternehmen oder öffentlichen Institutionen. Ein passendes Schaubild aus dem Buch sieht folgendermaßen aus:

Nützlichkeit und Bezahlung von Arbeit negativ proportional?

In Graebers Buch geht es um sinnlose Tätigkeiten. Ebenso um Ungleichheit und Umverteilung. So untersucht Graeber, dass die Nützlichkeit und die Bezahlung einer Tätigkeit sich oft negativ proportional verhalten: »Ein Job ist umso schlechter bezahlt, je größer der gesellschaftliche Wert ist.« Sieht man sich tagesaktuelle Diskussionen um die Bezahlung von Pflegekräften und anderen systemrelevanten Tätigkeiten an, so geht es um diesen Zusammenhang. Ein Paradoxon, das ich jüngst im Artikel »Der Wert der Arbeit« behandelt habe.

Das bedingungsloses Grundeinkommen – eine Lösung?

Würde man Graeber im politischen Spektrum einordnen, so liegt der Schluss nahe, man habe es mit einem linken Autor zu tun. Bevor sich Gräber zu möglichen Maßnahmen äußert, die politisch umgesetzt werden müssten, stellt er klar: Er verfolge mit seinem Buch keine politischen Absichten, vielmehr möchte er ein Problem aufzeigen. Zudem bezeichnet er sich als Anarchisten.

Auf dieser Basis zeigt Gräber einen Lösungsansatz auf. Dieser liegt nahe: Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte helfen. Zudem könnte man über kürzere Arbeitszeiten sprechen. Ein gelungener Abschluss des Buches.

Bullshit Jobs von David Graeber mit Post-Its
Wieder ein Buch mit vielen Post-Its. Das Markenziechen der Volkswirtin (sofern die Lektüre spannend war)?

Fazit

Mit unseren Systemen stimmt etwas nicht. Dieser Meinung bin ich schon lange. Nicht umsonst habe ich meinen Bullshit-Job in der Finanzbranche nach kurzer Zeit gekündigt.

Die Systemfrage ist mehr als komplex. Graeber greift die Stellschraube der anscheinend vielen überflüssigen Jobs auf, um unsere Gesellschaft und Wirtschaft zu analysieren. Damit hat er ein Puzzleteil zu meinem Verständnis hinzugefügt. Das Bauchgefühl, dass vieles nicht stimmt, mit plausiblen wissenschaftlichen Erklärungen genährt.

Von David Graber wird es leider keine neuen Publikationen geben. Der Anthropologe ist 2020 verstorben. Mit dem Begriff der Bullshit Jobs hat er sich verewigt.


Graeber, David: Bullshit Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Klett Cotta Verlag. Taschenbuch. 2020 (3. Druckauflage). ISBN 978-3608982459. 12,00 €.

Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar vom Verlag zur Verfügung gestellt.

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