Einige Möglichkeiten zum staatlichen Schuldenabbau habe ich bereits aufgezeigt. Folgende Fragen bleiben: Kann Deutschland seine Schulden abbauen? Und ist das überhaupt sinnvoll? Wäre Deutschland geldpolitisch unabhängig, würde ich sagen: Ja. Ohne zu Zögern. Und zwar im Sinne der Generationengerechtigkeit. Nun ist Deutschland in der Europäischen Währungsunion verstrickt und haftet für europäische Schulden mit. Die Frage ist nicht mehr klar mit einem Ja zu beantworten. Die Tragweite wird im Folgenden aufgezeigt.
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Durch die Haftung Deutschlands für europäische Schulden wird klar: Deutschland sollte nicht unbedingt sparen.
»Wir Deutschen zahlen für den Rest von Europa.« Dieser populistische Satz ist in Debatten über die Europäische Union und Währungsunion oft zu hören. Sehen wir uns an, was hinter dieser Aussage steckt. Werfen wir einen Blick auf die EU-weiten Programme zur Stabilisierung des Euro und der Wirtschaft. Und inwieweit Deutschland dafür zahlt und haftet:
ESM: der Euro-Rettungsschirm
Nach der Finanzkrise 2007/2008 gerieten südeuropäische Staaten ins Wanken. Sie konnten durch steigende Zinsen ihre Kredite nicht mehr abbezahlen. Die Euro-Staaten hatten Angst, dass das den Euro als Währung destabilisieren könnte.
So wurde der ESM ins Leben gerufen. Die Abkürzung steht für »Europäischer Stabilitätsmechanismus«. Er löste 2012 den temporären ersten Euro-Rettungsschirm namens EFSF ab. Der ESM soll Euro-Staaten mit Finanzproblemen stützen. Die Staaten erhalten zinsgünstige Kredite. Im Gegenzug verpflichten sie sich zu Sparmaßnahmen und Strukturreformen.
Oft wird betont, dass es sich bei dem Mechanismus um Kredite und nicht um Transferleistungen handle. Jedoch hat Griechenland in den letzten Jahren immer mehr Hilfen erhalten und kaum etwas zurückgezahlt (das Bundesfinanzministerium bietet einen guten Überblick). Es ist fraglich, ob das jemals passieren wird. Deutschland hat knapp 22 Milliarden Euro in den Fonds eingezahlt und haftet beim ESM mit maximal 190 Milliarden Euro. Das ist eine stattliche Summe.
PSPP: Staatsanleihenkäufe durch die EZB
Eine Leitlinie wurde überschritten, als die laut Mandat von der Politik unabhängige Europäische Zentralbank 2015 begann, Anleihen von Europäischen Mitgliedsstaaten aufzukaufen. In anderen Worten: Die Staaten verschulden sich, und die Zentralbank finanziert die Staaten. PSPP genannt (Public Sector Purchase Program).
Durch Corona kam zu PSPP das PEPP hinzu (Pandemic Emergency Purchase Program). Die Staatsanleihenkäufe stiegen beträchtlich: Ende 2020 hat die EZB 3.695 Milliarden oder knapp 3,7 Billionen Euro Staatsanleihen in ihrer Bilanz. 3.700.000.000.000 Euro an Staatsschulden in der Zentralbankbilanz.
Die Erhöhung der Bilanzsumme des Eurosystems im Laufe des Corona-Jahres ist beträchtlich: In der Pressemitteilung der Notenbank heißt es: »Die Bestände des Eurosystems an zu geldpolitischen Zwecken gehaltenen Wertpapieren erhöhten sich um 1 063 Mrd € auf 3 695 Mrd € (2019: 2 632 Mrd €)«. In der Bilanz ist es der Posten »Securities held for monetary policy purposes«.
Der Corona-Wiederaufbaufonds: gemeinsame Schulden
Neuer Meilenstein: Im Juli 2020 hat die EU einen Wiederaufbaufonds im Gesamtvolumen von 750 Milliarden Euro beschlossen. Paradoxerweise trägt er den Titel »Next Generation EU«. Zumindest die Schulden für die nächste Generation sind unbestritten.
Das Geld des Wiederaufbaufonds soll den Mitgliedsstaaten als ein Mix aus Finanzhilfen und rückzahlbaren Darlehen zur Verfügung stehen. Der Fonds ist ein Konjunktur- und Investitionsprogramm zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie.
So hat Europa im Zuge der Corona-Pandemie zum ersten Mal gemeinsam am Kapitalmarkt Schulden aufgenommen. Am Kapitalmarkt wurden gemeinsame EU-Anleihen ausgegeben. Das kommt den viel diskutierten Eurobonds recht nahe. Der einzige Unterschied? Laut tagesschau.de die Verwendung: »Eurobonds würden ja allgemein der Finanzierung der Haushalte in den Mitgliedsstaaten dienen. (…) Die Mittel sind ausschließlich vorgesehen, um ökonomische Folgen der Corona-Krise abzufedern. Das geht zwar weit über den reinen Gesundheitssektor und dessen Unterstützung in den EU-Ländern hinaus, ist aber in jedem Fall zweckgebunden.« (Hervorhebungen von mir) Wieder einmal sieht man, was die Corona-Pandemie rechtfertigt.
Deutschland hat vergleichsweise wenig Schulden. Doch das ist nicht unbedingt ein Vorteil, denn aus diesem Grund zahlt Deutschland zunächst netto am meisten an den Wiederaufbaufonds. Es haftet für die anderen Euro-Staaten.
Zwischenfazit: Uff. Ganz schön viele Schulden. Ganz schön viele gemeinsame Schulden. Und ganz schön viel Staatsanleihen, die von der EZB aufgekauft wurden.
Update vom 26.03.2021: Die EU-Corona-Hilfen wurden durch das Verfassungsgericht vorläufig gestoppt, wie u.a. die Welt berichtet. Man kann jedoch davon ausgehen, dass dieser Beschluss lediglich vorläufig ist.
Wie war das mit den »reichen Italienerin« und den »armen Deutschen«?
Man hört derzeit öfters, dass die deutschen Privatvermögen im Schnitt niedriger seien als die italienischen. Und dass die Deutschen im Schnitt weniger Immobilien besäßen als die Italiener. So gesehen seien die Deutschen also eigentlich ärmer als die Italiener. Sollten da nicht erst die Privathaushalte in den südeuropäischen Staaten besteuert werden, bevor andere EU-Länder Kredite und Hilfen an Italien vergeben? Dies fordert beispielsweise der Ökonom Daniel Stelter im manager magazin.
Stimmt es, dass die Italiener reicher sind als die Deutschen? Betrachtet man die Berechnungen zum Privatvermögen genauer, wird wie so oft schnell klar: So einfach ist das nicht. Die Berechnung ist komplex, und die Statistik unterscheidet sich je nach Datengrundlage.
Für die Studien zum durchschnittlichen Vermögen wird meist der Medianwert herangezogen. Der Median stellt die Mitte einer Verteilung dar, er teilt die Daten in zwei Hälften. Nicht zu verwechseln mit dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Vermögen. Dass der Median in Deutschland so niedrig ist, sagt nicht aus, dass die Deutschen besonders arm sind, sondern dass das Vermögen sehr ungleich verteilt ist, wie Correctiv berichtet. Das ist ein Problem, aber ein anderes.
Zudem argumentiert die Union Investment (die Investmentgesellschaft der genossenschaftlichen Finanzgruppe) in einem Papier, dass die Sozialversicherungssysteme in Ländern wie Italien schwächer als in Deutschland seien. Dadurch werde privat mehr gespart, zudem steige der Anreiz, Immobilien als Daseinsvorsorge zu erwerben.
Das populistische Argument der »reichen Italiener« und der »armen Deutschen« ist mit Vorsicht zu genießen. Dennoch gilt, ganz ohne Populismus: Deutschland ist der größte Nettozahler der EU. Und Deutschland steckt tief in den Europäischen Schulden mit drin. Zum Thema Anreize sollte man die Frage stellen:
Ist es sinnvoll, wenn Deutschland spart?
»Natürlich sollte Deutschland schauen, dass es sich nicht noch weiter verschuldet und seine Corona-Schulden begrenzt.« Bis vor Kurzem habe ich so argumentiert. Allein wegen der Generationengerechtigkeit: Corona ist eine leichte Rechtfertigung der Politiker für neue Schulden. Doch das ist kurzfristig und einseitig gedacht: Es ist nicht gesagt, dass keine weitere Pandemie kommt. Es ist wahrscheinlich, dass wir in den nächsten Jahrzehnten die Folgen des Klimawandels spüren werden, was noch viel teurer werden könnte.
Ein Podcast des durchaus umstrittenen Influencers Lars Erichsen mit dem Titel »Wir brauchen mehr Schulden« hat mich aufhorchen lassen. Erichsen argumentiert folgendermaßen: In der EU werde Sparen bestraft. Das gelte privat wie öffentlich: »In einer Währungsunion, die nur überleben kann, wenn derjenige, der die meisten öffentlichen Schulden hat, mitgezogen wird, ist der Sparer der Dumme.« Das klingt logisch. Daher plädiert Erichsen fürs Schuldenmachen. Die Frage sei nicht, ob wir mehr Schulden machen sollten, sondern »wofür wir das Geld verwenden«.
Stünde Deutschland für sich und würde Deutschland nicht für viele andere europäische Staaten mithaften, würde ich immer noch argumentieren, dass Deutschland im Sinne der Generationengerechtigkeit sparen solle. Betrachtet man die gesamteuropäischen Schulden und in welchem Maße Deutschland dafür haftet, wird der Anreiz zum Schuldenmachen in unserem System wieder einmal offenbar. Wer spart, muss für die zahlen, die Schulden machen. So funktioniert das System. Dies ist leider wahr. Ganz ohne Populismus.
Wäre es so gesehen nicht sinnvoller, wenn Deutschland beim Schuldenmachen mitmacht und so viel Geld wie möglich sinnvoll investiert? Und zwar in die Zukunft: In Bildung, Digitalisierung und Forschung. Jetzt sage ich: Ja. Unter diesen Umständen. Unter dem fragwürdigen Anreizsystem zum Schuldenmachen. Hätte Deutschland eine eigene Währung, würde die Antwort anders lauten.
Selbst wenn die Welt eines Tages unter ihrem Schuldenberg kollabiert, könnte Deutschland das durch nationale Sparbemühungen nicht aufhalten.
Wie sehen Sie das?