Vom BlackBerry-Europachef zum Hospizbegleiter – Markus C. Müller hat einen radikalen Lebensweg eingeschlagen. Heute entwickelt er mit seiner App »Nui Care« digitale Unterstützung für pflegende Angehörige und schreibt über die Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht. Die Volkswirtin hat mit ihm über Pflege, Unternehmertum und die Lehren aus der Begegnung mit Sterbenden gesprochen.
Artikelübersicht

Über Markus C. Müller
Markus C. Müller ist ein deutscher Unternehmer und Wirtschaftsmanager. Nach seinem Jurastudium gründete er 2002 das Softwareunternehmen ubitexx, das er 2011 an den kanadischen Smartphone-Hersteller BlackBerry verkaufte. Dort übernahm er Führungspositionen – zunächst als Geschäftsführer für Deutschland, später als Europa-Chef – und war verantwortlich für mehr als 4.000 Mitarbeitende.
2015 entdeckte Müller in einer Flughafenbuchhandlung Bronnie Wares Buch »5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen«. Die Lektüre markierte für ihn einen Wendepunkt: Er erkannte, dass auch er zentrale Aspekte seines Lebens bereuen würde, wenn er nichts verändern würde. Er gab seine Position auf, absolvierte eine Ausbildung zum Hospizbegleiter und gründete 2018 als Co-Founder und CEO das Unternehmen Nui Care, das eine App für pflegende Angehörige entwickelt. Ehrenamtlich ist er im Hospizdienst DaSein tätig.
Über »Im Angesicht des Lebens«

In seinem Buch »Im Angesicht des Lebens« (Haufe, 2025) schreibt Müller über seine eigene Geschichte. Das Buch widmet sich den zentralen Fragen nach Zufriedenheit, Erfüllung und Lebensgestaltung. Darin arbeitet er fünf zentrale Qualitäten heraus, die für ihn ein gelungenes Leben ausmachen. Entstanden ist ein persönlicher und inspirierender Bericht, der sowohl den radikalen Wechsel vom Spitzenmanager zum Sterbebegleiter als auch die bewusste Konfrontation mit Tod und eigener Endlichkeit nachzeichnet. Und ein ermutigendes Plädoyer für Unternehmertum und Verantwortung.
Interview mit Markus C. Müller
Sarah Tischer: Sie haben 2018 die Pflege-App Nui-Care mitgegründet und sind Geschäftsführer. Was genau ist das Geschäftsmodell Ihrer App?
Markus C. Müller: Die Nui App dient Pflegenden Angehörigen dabei, sich während der gesamten Pflegereise optimal zu informieren, organisieren und sicherzustellen, dass alle Unterstützungsleistungen, die ihnen zustehen, auch abgerufen werden können.
Bezahlt wird die App von den Pflegekassen, mit denen wir Verträge haben, die die App dann kostenfrei an den Pflegenden Angehörigen bzw. Pflegebedürftigen weitergeben.
Außerdem starten wir gerade eine Selbstzahler Option, mit der die Angehörigen, die bei keiner unserer Partnerkassen versichert sind, die App trotzdem nutzen können.
In Zeiten wachsender Digitalisierung und Automatisierung – wie sehen Sie die Zukunft der Pflege? Können digitale Lösungen die menschliche Komponente ausreichend ergänzen oder ersetzen? In Ihrem Buch sprechen Sie von einem Pflegeroboter. Wann könnten diese eingesetzt werden?
Markus C. Müller: Ich glaube, dass digitale Lösungen die einzige Möglichkeit sind, die wachsenden Herausforderungen in der Pflege zu adressieren. Den Vorteil, den digitale Lösungen mitbringen ist, dass sie skalierbar sind, ohne tausende neue z.B. Pflegeberater auszubilden. Die menschliche Komponente soll damit nicht ersetzt werden. Es geht um Informationen und Hilfestellungen, die eine digitale Lösung vielleicht sogar umfassender und immer up-to-date wiedergeben kann als ein Mensch, der Dinge vergisst oder eben nicht immer die neueste Gesetzgebung kennt.
Der Pflegeroboter, von dem ich spreche, ist ein sozialer Roboter, der mit den Bewohner in Pflegeheimen in Kontakt tritt und sie über ein Gespräch aktiviert und unterhält. Dieser Roboter ist bereits im Einsatz und kommt bei den Senioren sehr gut an. Auch hier geht es nicht um den Ersatz von Menschen – die haben wir sowieso nicht ausreichend verfügbar – sondern darum, dass diese Bewohner überhaupt eine Ansprache haben.
Ein zusätzlicher Bonus mag sein, dass ein Roboter sich auch 2 Stunden interessiert über ein Thema unterhält, das den Bewohner stark interessiert, ein menschlicher Pfleger aber schon längst aufgegeben hätte.
Was reizt Sie am Unternehmertum?
Markus C. Müller: Als Unternehmer erschafft man (neue) Dinge, das finde ich spannend. Man löst Probleme, meist auf eine neue, bisher nicht dagewesene Weise. Das begeistert mich. Außerdem bringt Unternehmertum eine große Freiheit mit sich, zumindest dann, wenn man auch mit der Verantwortung, die einhergeht, gut umgehen kann.
Als Unternehmer kann ich Menschen begeistern, ihnen Freude bei ihrer Arbeit geben, Lösungen für unsere Gesellschaft erarbeiten und anbieten und mich auch selbst so verwirklichen, wie ich es möchte.
Wie sind Sie dazu gekommen, ein Buch zu schreiben? Wen wollen Sie erreichen?
Markus C. Müller: Vor vielen Jahren bin ich mal von einem Literaturagenten angesprochen worden, ob ich nicht Lust hätte, ein Buch zu schreiben. Damals hat das gesamte Setting nicht gepasst, weshalb das dann nie zustande gekommen ist.
Eine Bekannte von mir hat mich dann 2023 nochmal motiviert und mir auch den Kontakt zu meinem jetzigen Verlag gemacht. Dort habe ich mich sofort wohl gefühlt und wir haben das Buch dann gemeinsam umgesetzt.
Außerdem habe ich oft die Erfahrung gemacht, dass ich, wenn ich mit anderen Top-Managern im Austausch war, die Gespräche immer ähnlich abliefen, wenn ich meine Erfahrungen geschildert habe. Und das Feedback nach diesen Gesprächen war immer sehr positiv. Irgendwann dachte ich, dass ich, wenn ich das niederschreibe, eine größere Gruppe von Menschen erreichen und damit vielleicht inspirieren kann.
Hat das Schreiben Ihnen Spaß gemacht bzw. Sie erfüllt?
Markus C. Müller: Das Buch habe ich zusammen mit Vera Hermes, einer Ghost-Writerin, geschrieben. Ohne sie hätte ich das weder qualitativ noch zeitlich hinbekommen. Wir haben uns regelmässig getroffen und wöchentlich digital ausgetauscht. Der Prozess war immer gleich: ich erzähle, sie schreibt, ich bringe meine Änderungswünsche ein, sie verändert usw…
Dieser Prozess hat mir tatsächlich viel Spaß gemacht, manchmal war er aber durchaus auch herausfordernd. Gerade, wenn man die Idee im Kopf hat, was die „message“ sein soll, aber keinen klaren Weg findet, dass auszudrücken. Gerade dabei war es unglaublich wertvoll, mit Vera einen Profi an der Seite zu haben.
Ebenso sprechen Sie das bedingungslose Grundeinkommen an (auf die-volkswirtin.de gibt es bereits einen Artikel zum Thema). Was entgegnen Sie Kritikern, die befürchten, dass dadurch Arbeitsmotivation sinkt oder dass ein solches Modell wirtschaftlich nicht tragfähig sei?
Markus C. Müller: Dazu gibt es ja bereits viel Literatur (z.B. von Götz Werner, dem Gründer von dm Drogerie, der schon vor vielen Jahren dieses Konzept unterstützt hat).
Wer der Meinung ist, dass die Arbeitsmotivation sinkt, der hat folgendes Menschenbild: „Der Mensch ist von Natur aus faul und nur wenn er muss, tut er etwas.“ Das unterstütze ich nicht. In meiner Welt wollen sich Menschen verwirklichen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben.
Dass das Grundeinkommen finanzierbar ist, wurde auch schon mehrfach vorgerechnet. Dazu gibt es viele verschiedene Vorschläge, die man sicher im Detail nochmal prüfen müsste. Wichtig ist ja auch zu verstehen, dass viele Kosten wegfallen. Die gesamten Prüf- und Verwaltungsprozesse inkl. der Behörden fielen ja damit weg. Es gäbe keine Sozialleistungen mehr und auch keine Prüfung auf Bedürftigkeit mehr. Jeder bekommt das bedingungslose Grundeinkommen und sollte in der Lage sein, davon zu leben. Für die allermeisten wird das sowieso zu wenig sein, um sich zurückzulehnen und sich ein schönes Leben zu machen (zu dem übrigens nach meiner Erfahrung auch eine sinnvolle Beschäftigung zählt), sondern man wird dazuverdienen. Dann aber vielleicht in einem Bereich, der einem Freude macht, wo man Sinn in dem sieht was man tut – und das wiederum macht dann zufriedener.
Als Europa-Vorstand bei BlackBerry hatten Sie eine Position mit hoher Verantwortung, großem Einfluss und entsprechendem Gehalt – bei einem starken Zeitaufwand. Wie beurteilen Sie die heutigen Gehaltsniveaus in Top-Führungspositionen? Sehen Sie im Vergleich dazu Ungerechtigkeiten, etwa in Pflegeberufen, die gesellschaftlich ebenso wichtig sind, aber deutlich schlechter bezahlt werden? Wenn ja, haben Sie Verbesserungsvorschläge?
Markus C. Müller: Es gibt Unternehmen (wie z.B. die GLS Bank) die sich freiwillig verpflichten, zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Gehalt nur ein bestimmtes Multiple zuzulassen. Der Ökonom Peter Drucker hat 2011 einmal vorgeschlagen, das Verhältnis auf maximal 20:1 zu setzen, um eine gute Moral im Unternehmen aufrecht zu erhalten. Durchgesetzt hat er sich damit nicht, in den USA ist das teilweise 320:1 üblich, in Deutschland liegt es bei 50:1.
Ein Grundeinkommen würde bei dieser Diskussion übrigens auch helfen. Weniger bei den Chef-Gehältern, sondern mehr bei den niedrigen Einkommen. Dort könnten sich dann nämlich künftig Menschen entscheiden, ob sie für ein bestimmtes Gehalt diese Arbeit annehmen oder nicht. Heute haben sie wohl oft das Gefühl, nicht mehr „zu verdienen“ und nehmen den Job an, um ihr Leben damit zu bestreiten.
Ein großer Teil Ihres Buches widmet sich dem Aspekt, wie Sie Ihr Leben und was Ihnen wichtig ist, reflektieren. Dabei haben Sie 5 »Qualitäten« definiert. Eine davon ist, sinnstiftend zu arbeiten. Würden Sie sich als Idealist bezeichnen? Werden Sie von anderen so bezeichnet?
Markus C. Müller: Nein, bisher hat mich noch niemand als Idealist bezeichnet – ich würde das auch nicht tun. Ich laufe nicht Idealen hinterher, die nicht erreichbar oder unrealistisch sind.
In Bezug auf die sinnvolle Arbeit ist meine Erfahrung einfach (und auch dazu gibt es zahlreiche Studien), dass mich das zufriedener macht. Man könnte das also auch im klassichen Wortgebrauch als „egoistisch“ bezeichnen. Denn am Ende geht es darum, dass es mir besser geht. Für mich ist der Begriff „Egoist“ auch kein negativer. Wenn wir unsere Motivationen immer bis zum Ende prüfen würden, stünden da wohl fast ausnahmslos wir selbst. Aber das ist meine Meinung nach ok. Nur wenn es mir gut geht, dann ich wirken, helfen, erschaffen, unterstützen und gut leben.
Sarah Tischer: Mit Ihrer App wollen Sie pflegenden Angehörigen auch über (finanzielle) Hilfen aufklären, die in Anspruch genommen werden können. Gibt es Ihrer Meinung nach genug Hilfe für pflegende bzw. pflegebedürftige Personen? Oder ist es eher problematisch, dass diese Hilfen oft aus Unwissenheit oder weil es zu kompliziert ist, nicht in Anspruch genommen werden?
Markus C. Müller: Es gibt deutlich zu wenig Hilfe für pflegende Angehörige. Das wird auch sichtbar, wenn man sich die Statistik vor Augen führt, dass fast 50% aller Pflegenden im Laufe der Pflegereise psychische Probleme wie Depression oder Burnout bekommen. Das zeigt die starke Belastung und, dass da noch Luft nach oben ist, was die Unterstützung angeht.
Also braucht es zwei Dinge: Zum einen, mehr Aufklärung/Beratung darüber, was möglich ist und den Menschen zusteht. Und zum anderen mehr verfügbare Angebote, die die Angehörigen wahrnehmen können.
Sarah Tischer: Viele Experten warnen vor der Überlastung unserer sozialen und gesundheitlichen Systeme durch steigende Kosten und Schulden. Teilen Sie diese Sorge?
Markus C. Müller: Das Gesundheitssystem in Deutschland ist eines der teuersten und am wenigsten effektiven in der Welt. Es geht also nicht darum, nur immer mehr Geld in ein nicht effizientes System zu geben, sondern die Effizienz zu steigern. Ein guter Ansatz z.B. wäre, endlich viel mehr Fokus auf die Prävention zu legen. Wir sind gut darin, Krankheiten zu behandeln, aber nicht, sie zu verhindern. Prävention hat den großen Nachteil, dass sie erst in der (ferneren) Zukunft spürbar wird. Gleichzeitig bietet unser System aber keine Anreize für die Politik oder auch die Vorstände der großen Kassen die Kosten in 10 oder 20 Jahren zu senken, weil sie dann vielleicht gar nicht mehr in der Position sind – und die Angst besteht, dass die Wählerin die Geduld nicht mitbringt. Ich denke, wenn die Politik endlich mal Visionen für ein Deutschland 2050 oder wann auch immer diskutieren würde – und da Vorschläge vorlägen. Ich denke, dann könnte man auch eine Wählerschaft dazu bewegen, Einschnitte zu akzeptieren, um die größere Vision in der Zukunft zu erreichen.
Als Unternehmer ist das übrigens genauso. Als Unternehmer muss ich es schaffen, eine große Vision für das Unternehmen zu spinnen und den Mitarbeitern zu „verkaufen“. Und dann sind alle auch bereit, für die Vision auf kurzfristige Vorteile zu verzichten.
Steigende Verschuldung und die Gefahr von (unkontrollierter) Inflation sind zentrale Themen bei der Volkswirtin. Und auch um die Schieflage der Systeme. Beschäftigen Sie diese Themen? Sehen Sie Gefahren?
Markus C. Müller: Ich bin kein Volkswirt 😉 und nein, das beschäftigt mich aktuell nicht.
Sie schreiben, dass Sie nichts von der Work-Life-Balance halten und da nicht strikt trennen möchten, weil Sie auch beruflich etwas tun möchten, dass Ihnen Freude und Erfüllung bringt. Das war auch mein Lebensziel, das ich mir als Gastgeberin der Black Forest Lodge gesetzt habe. Oft funktioniert es, manchmal gerate ich jedoch an meine Grenzen, weil man einfach nie fertig ist und immer noch was arbeiten kann. Kennen Sie dies auch?
Markus C. Müller: Das man nie fertig ist, das kenne ich schon. Aber ich sehe das nicht als Belastung, das ist das Leben. Das ist auch erst „fertig“ mit dem Tod. Die Frage ist ja, wie man damit umgeht, dass Dinge nicht „fertig“ sind. Mit dem Anspruch, sie endlich fertig zu machen, entsteht Stress – und das bringt sie wahrscheinlich an Ihre Grenzen.
Was nehmen Sie aus Ihrer Tätigkeit als Sterbebegleiter für Ihr Leben mit?
Markus C. Müller: Das größte „learning“ für mich war: „Da zu sein“ an sich ist ein Wert. Ohne etwas tun zu müssen. Einfach präsent sein.
Aber durch den wöchentlichen Blick in die Augen von Sterbenden passiert noch mehr: zum einen gelingt es mir besser, wichtiges von unwichtigem zu unterscheiden – denn im Angesicht des Todes verlieren viele Probleme an Wichtigkeit. Zum anderen wird mir meine eigene Endlichkeit jede Woche erinnert – und das führt immer wieder dazu, dass ich mir Gedanken mache, wie ich meine verbleibende, wertvolle Zeit einsetzen möchte.
In Ihrem Lebensweg zeigt sich ein radikaler Wechsel vom Manager zu einer sehr sozialen Aufgabe. Wie reagieren Ihr Umfeld und ehemalige Kollegen darauf? Gibt es Vorurteile oder besondere Anerkennung?
Markus C. Müller: Zu Beginn gab es Vorurteile – vielfach den Kommentar: Naja, das ist die midlife crisis… Aber da sich der radikale Wechsel ja verstetigt hat – und sichtbar keine vorrübergehende Laune war, bekomme ich inzwischen vor allem Anerkennung dafür. Natürlich bringt so ein Wechsel auch mit sich, dass man ehemalige Wegbegleiter verliert bzw. keinen Kontakt mehr pflegt, dafür kommen andere hinzu.
Nach meiner Kündigung damals haben mir fast alle (bis auf meine Mutter) einen Vogel gezeigt und meinten, ich würde eine tolle Karriere aufgeben. Heute, rückblickend, verstehen es viele und beneiden vielleicht auch manchmal den Schritt, den sie selbst sich nicht zutrauen, aber gerne vollziehen würden.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Füllt Sie die Tätigkeit bei Nui aus? Können Sie sich vorstellen, nochmals unternehmerisch tätig zu werden? Oder haben Sie sogar fest vor, nochmal etwas ganz Neues zu machen?
Markus C. Müller: Ich bin mir sicher, dass nach Nui wieder etwas anderes kommt – aber dafür plane ich aktuell noch nicht. Momentan ist mein oberstes Ziel, mit Nui den Angehörigen zu helfen – und die Lösung, die wir anbieten, möglichst vielen Menschen, idealerweise auf der ganzen Welt, anzubieten.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meine Fragen zu beantworten und für die spannenden Einblicke, Herr Müller!
Hinweis: Das Interview mit Markus C. Müller habe ich per E-Mail geführt.



